2018 – 2019

Querschnitt Japan

Text von Simon Kräuchi, Bilder von Matthias Pfammatter

Was bedeutet Japan für mich? Unzählige Male habe ich nun versucht, eine einfache – oder auch nur einfach eine – Antwort auf diese Frage zu finden, doch ohne Erfolg. Und auch dieser Text ist nichts Anderes als ein weiterer – wohl auch dieses Mal erfolgloser – Versuch, diese Frage zu beantworten. Wenn es mir aber auch verwehrt zu sein scheint, die Gesamtheit dessen wirklich zum Ausdruck bringen zu können, was sich in Form von Bildern, Gefühlen, flüchtigen Erinnerungen an die Oberfläche meines Bewusstseins drängt, wenn ich mich an Japan zurückerinnere, so kann ich doch zumindest versuchen, auf einige Aspekte dieser Erfahrung hinzuweisen.

Kaum eine Gesellschaft wird von dermassen tiefsitzenden Widersprüchen heimgesucht wie die Japanische. Etwa am Scheidepunkt von Tradition und Moderne: auf der einen Seite die zierliche, kunstvolle Holz-Architektur, die stillen Teezeremonien, die andächtigen Tempel und Schreine, eine schlicht verputzte Fassade, sowohl an Gebäuden wie auch Gesichtern, die allgewaltige Harmonie und Ruhe; auf der anderen Seite die vielen Lichter, die Neon beschienen Strassen, der strömende Verkehr, die gigantischen Betonwüsten, Haus an Haus, Block an Block, die pulsierenden Massen, das nie zur Ruhe kommende Nachtleben, der Verlust jeglicher Zeit und Ordnung.

In so kleinen Dingen des Alltags, wie etwa einer Schüssel Ramen mit ihrer heissen Suppe, den gewundenen Nudeln, dem zarten Fleisch und dem in Sojasosse eingelegten Ei, zeigt sich dieser alles beherrschende Gegensatz: das überwältigende traditionelle Wissen der japanischen Kochkunst, die Köstlichkeiten und Geschmacksempfindungen hervorzubringen vermag, von welchen zumindest ich zuvor nur träumen konnte, in eine Form verdichtet, welche dem alltäglichen – und doch völlig absurden – (Zeit-)Druck gerecht wird, unter welchem die «Salary Men» stehen, die in ihren schwarzen Anzügen, weissen Hemden und mit der schwarzen Aktentasche unter dem Arm in Scharen die Strassen und U-Bahnen Tokyos – Nein! ganz Japans – bevölkern und die man mehr als nur ein paar Mal nach zu ambitioniertem Alkoholgenuss auch schlafend in eben jenen Strassen anzutreffen weiss.

So kann es nun auch geschehen, dass man sich auf einer Reise im Zug quer durch ein solches Land der Widersprüche befindet und in einer modernen Stadt wie Osaka beginnt, wo ein unglaubliches Nachtleben aufblüht, die Strassen im grellen und überirdisch gelben, roten und violetten Schein der Laternen und Leuchtreklamen stehen, von wessen Dächern aus die darunterliegende Erde zum Sternen übersäten Himmel wird; und dann dazu übergeht, in die traditionelle Welt von Kyoto einzutauchen, wo Japan noch in einer Weise auftritt, wie es sonst wohl nur noch in Erzählungen, Geschichten und Filmen der Fall ist, wo sich die Dächer von Tempeln eines an das andere reihen, wo man – lauerte nicht eine Heerschaar von Touristen in ständiger Sichtweite – doch nicht zutiefst verwundert wäre, würde der Kaiser mit seinem Gefolge um die nächste Ecke biegen, wo sich in Gestalt der Geisha noch ein Japan zeigt, das dem westlichen Auge zwar wohl bekannt, doch noch immer unendlich fern erscheint.

Führt eine solche Reise – mit einem Zug, den sogar das verwöhnte schweizerische Pünktlichkeitsempfinden noch in Erstaunen versetzt kann – dann auch noch über Hiroshima, so wird man auf einmal auch noch gewahr, welche Gewalt in einem so überaus friedlich erscheinenden Land unter der Oberfläche schlummert und man sieht sich mit einer Geschichte konfrontiert, die nebst ihres grausamen Inhalts auch mit der Einseitigkeit ihrer Darstellung zu schockieren vermag, was sich so sicherlich nicht alleine auf Hiroshima begrenzt, aber über ganz Japan einen sanften Schleier der Verdrängung zu werfen vermag, den man am liebsten als die letzte Wahrheit akzeptieren würde.

Im taumelnden Nebel dieser entzückenden Erfahrungen bleibt, einem feinen Dorn gleich, der sich kaum merklich in die Haut gräbt, doch die Frage im Hinterkopf zurück, ob denn der schimmernde Schein wahrhaftig Wirklichkeit sei. Mehr noch als die Angst vor der Täuschung, baut sich in mir die Furcht vor der Selbsttäuschung auf: Das Gesehene nicht im Ernst zu nehmen, sondern es auf die bunten und abstrusen Ideen zu reduzieren, welche ein Jeder von Zuhause mitgebracht hat. Sehe ich im glatten, weissen Gesicht der Geisha vielleicht doch nicht mehr als die Spiegelung jener Vorurteile, die ich gar glaube nicht zu besitzen? Ist das träumerisch schön Angetroffene zuletzt nichts mehr als die unterdrückte Hoffnung auf Flucht vor dem, was einen Zuhause erdrückt?

So sehr mich diese Fragen dazu ermahnen, dem Vergangen nicht die grobe Gewalt der Verklärung aufzudrücken, so bleibt doch auch die Erinnerung, fern ab jeder Wahrheit, durchdrungen vom Bild einer Sache, die ihrer Selbst beraubt wäre, würde sie Wirklichkeit werden.

Eine Leichtigkeit, wie bei barfüssigem Schlendern durch feinen Sand bemächtigt sich mir und ich tauche ein in eine von bunten Lichtern erfüllte Nachtluft. Von meinen Schultern fallen alle erdrückenden Gefühle, alle Ketten an die Pflichten des geordneten Lebens und vor mir tun sich ungeahnte, verlockende Möglichkeiten auf. Angeleitet von meiner neuen Leichtigkeit lasse ich mich immer tiefer fallen in den Strudel der auf mich einströmenden Eindrücke und Bilder, der Gerüche und Geräusche, die jedes eine neue Pforte zu dieser absonderlich schönen Welt eröffnet. Wie ich mich durch die von Beton strotzende Landschaft treiben lasse, diesem Urwald der zweiten Natur, beginnt sich die harte Schale zu lösen und mein Selbst geht auf eine Wanderung in den Strömen der Menschen, die sich Tag ein Tag aus durch die gewaltigen Schluchten dieser Mondlandschaft dahinwälzen.

Träumend und tanzend geht einem in diesem Strudel so manchmal der Blick dafür verloren, dass die entdeckte Freiheit nicht etwa dem gesellschaftlichen Leben selbst entspringt, sondern in der seltsamen Position des Reisenden ihre Quelle hat. Wer etwa sich von seiner Erziehung her gewohnt ist, die Kontrolle des Spirituellen im Schatten des Kreuzes aufzufinden, tritt dem ernsten Gesicht Buddhas höchstens mit spielerischer Verwunderung entgegnen, ohne jene Kräfte aus der Tradition zu vernehmen, welche dem Leben Struktur aufdrücken. Japans Ordnung, Höflichkeit – manchmal auch Steifheit, die überwältigende Disziplin, der förmliche Umgang, bleiben eine äusserliche Abstraktheit – von Zeit zu Zeit vielleicht sogar Kuriosität – ohne jedoch ihre ganze Macht über den Besucher auszubreiten.

Rückblickend auf die diffusen und umhertreibenden Bilder und Gedankenfetzen des Vergangenen bleibt es schwierig, eine klare Antwort auf die Frage nach der Bedeutung zu geben. Am ehesten noch kann diese an der Veränderung im Umgang mit dem Vertrauten – vormals Notwendigen – begriffen werden, jenem Etwas, das notgedrungen den Namen Heimat trägt.